Atembrief von Gertrud, Woche 9

Lie­be Atem­freun­din­nen und Atem­freun­de,  
klei­ne War­nung vorneweg.….es kann pas­sie­ren, dass ich dies­mal etwas albern wer­de. Ursa­chen dafür gibt es ja reich­lich:  die wach­sen­de Ent­span­nung im lan­gen lock­down, zu viel Frisch­luft­zu­fuhr, Ver­lust­schmerz und “Land in Sicht” gleich­zei­tig, heu­te wür­de eigent­lich die Atem­wo­che auf Kor­fu star­ten, Kor­fu im Sep­tem­ber hin­ge­gen könn­te Rea­li­tät wer­den, das ist schon der Neun­te (!!9!!) Atem­brief, Juch­hu, der ers­te Muse­ums­be­such in der Han­nah Are­ndt Aus­stel­lung in echt mit einer Freun­din ist in Aus­sicht, die zuneh­men­den diver­sen Ver­schwö­rungs­my­then machen mich ganz wuschig , ich höre laut­star­ke, fre­che, unan­ge­pass­te Musik von jun­gen Ber­li­ner Bands … was für ein Lebensgefühl. 

BINICHBINICH”                          “Aus­zeit”                  “Es geht vor­an”
Das sind Songs aus dem neu­es­ten Album “Die Kro­ne der Erschöp­fung” der Ber­li­ner Rock­band Shir­ley Hol­mes  (den Namen haben sie  übri­gens von der Nich­te des bekann­ten bri­ti­schen Detek­tivs geborgt), Wer es zur Zeit etwas kraft­vol­ler braucht, um wie­der durch­zu­at­men und die eige­ne Vita­li­tät zu spü­ren, soll­te sich das neue Album von Shir­ley Hol­mes mit ihrem ganz beson­de­rem weib­li­chen Char­me­fak­tor anhö­ren und dazu aus­ge­las­sen tan­zen, ganz beson­ders dazu geeig­net und mit­rei­ßend auch ihr schon älte­rer Song “Tan­zen” 
Tan­zen lässt es sich selbst­ver­ständ­lich auch zur Musik der Rock­band Kinks (aus­schließ­lich Män­ner, das war damals so) aus dem Lon­don der 60er Jah­re (das für die Älte­ren unter uns), ihr erin­nert euch sicher­lich noch an  “You real­ly got me” oder etwas ruhi­ger “Come dancing”. 

Ich bin so dank­bar und lie­be mei­nen  Atem ein­fach dafür, dass er mir die­se Fle­xi­bi­li­tät und so ein immens gro­ßes Erleb­nis und Seins-Spek­trum erlaubt, ihn inter­es­siert kein lock­down, ihn und mich erfreu­en die Musik der här­tes­ten Rock­band und klas­si­schen Musik gleich­zei­tig, wir lesen die feins­te Lyrik, uns begeis­tern beweg­te Kunst­ob­jek­te sowie alte und moder­ne Male­rei, er bringt mich auf die Schwei­zer Ber­ge , o.k. z.Zt. höchs­tens auf den Ber­li­ner Teu­fels­berg und bahnt sich mit mir Wege durch ver­wil­der­te Ber­li­ner Fried­hö­fe. Nur aller­bes­te Freun­din­nen und “ziem­lich bes­te” Freun­de kön­nen uns die­ses “Ich bin bei allem dabei, kom­me was wol­le” anbie­ten, oder? 

Wie inten­siv erlebt ihr die Freund­schaft zu eurem Atem? 

Ich habe übri­gens  in den letz­ten Wochen auch die Ber­li­ner Fried­hö­fe ent­deckt als ver­wun­sche­ne und ruhi­ge Orte zum Spa­zie­ren gehen, vol­ler zer­fal­len­der alter Fried­hofs­kunst.  Frau/Mann muss sich dort nicht wie bei einer Völ­ker­wan­de­rung im Gru­ne­wald füh­len. An die­sen Orten trefft ihr höchs­tens mal ein ver­lieb­tes Paar, Füch­se und Kanin­chen … und das mit­ten in Ber­lin. Habt Ihr schon mal vom Sausuh­len­see gehört? Den fin­det Ihr näm­lich auf dem Fried­hof Heer­stra­ße.  Die sel­te­nen far­ben­präch­ti­gen Eis­vö­gel (Vogel des Jah­res 1973 und 2009, NABU)  sind da mit ganz viel Glück auch zu sehen, genau­so wie die Grä­ber von Eve­lyn Künne­cke, Lori­ot, Horst Buch­holz, Georg Kol­be und der Male­rin Sarah Haffner.Berlin hat so vie­le Klein­ode. Es gibt ja Exper­ten die emp­feh­len mitt­ler­wei­le Schrei­the­ra­pie als hilf­reich für Men­schen, die end­lich wie­der durch­at­men wol­len. Ein lau­ter Schrei ist ein­deu­tig unmit­tel­ba­rer kraft­vol­ler Aus­atem, m. E. aller­dings über­haupt nicht geeig­net im häus­li­chen Umfeld mit den eige­nen Kin­dern, son­dern soll­te in deut­li­cher Ent­fer­nung von ande­ren Men­schen statt­fin­den, wo sich dazu gehö­ri­ge Gefüh­le und Aero­so­le unpro­ble­ma­tisch und ohne Risi­ko für ande­re ver­tei­len können. 

In die­sen beson­de­ren Zei­ten ent­steht auch ver­mehrt Kunst zum The­ma Atem. Die macht Edith Kollath, eine erfah­re­ne und begeis­ter­te Atme­rin und Künst­le­rin, aller­dings schon seit vie­len Jah­ren. Sie hat vom Atem inspi­rier­te, luf­ti­ge, beweg­te Instal­la­tio­nen geschaf­fen, www.edithkollath.com ↗, und es gibt auch ein wun­der­vol­les Buch zu die­ser atem­be­weg­ten Kunst: “Mano­eu­vre of Ple­nty”. Noch älter ist das Gedicht ars lon­ga über den Atem von Hil­de Domin (1909–2006) das mir Grit geschickt hat, zu fin­den unter https://wostilleist.blogspot.com/2018/03/ars-longa.html ↗  und ganz aktu­ell im Tages­spie­gel­ver­kauf, Jep­pe Hein mit “My Breath”.

Über jede Öffent­lich­keits­wir­kung des Atems freue ich mich als Atem­leh­re­rin natür­lich sehr. Viel­leicht wird das ja doch noch was mit der Freund­schaft der Men­schen zu ihrem Atem in gro­ßem Stil. Wenn es dazu Coro­na gebraucht hat, na gut, manch­mal geht Ent­wick­lung eben beson­de­re Wege. Letzt­end­lich geht es doch dar­um, dass wir end­lich begrei­fen, dass wir alle in einer Welt leben. Wir haben Teil an einem gro­ßen all­um­fas­sen­den Atem und wer­den nur ein erfül­len­des Leben haben, wenn wir zusam­men­ste­hen, uns nicht scha­den, uns gegen­sei­tig unter­stüt­zen, und ein Atem­zy­klus so wert­voll ist wie der ande­re. It’s easy, but not simp­le, ver­steht jedes Kind. 

Und abschlie­ßend noch ein klei­ner Bei­trag von mir zu dem The­ma Ver­schwö­rungs­theo­rien — eigent­lich sind es ja gar kei­ne Theo­rien, die müss­ten Hand und Fuß haben und nach­prüf­bar sein: Wir sind als erfah­re­ne Atmen­de ziem­lich gut davor geschützt, da wir mit jedem Atem­zug das Zulas­sen üben, und dabei ler­nen, dass es der Inbe­griff alles Leben­di­gen ist, dass es immer wie­der vol­ler Über­ra­schun­gen und Zufäl­le steckt. Beim Atmen ler­nen wir schon in den ers­ten Stun­den, dass es dafür kein Rich­tig oder Falsch geben kann, Atmen ist unmit­tel­ba­re Rea­li­tät, jeder Atem­zug unter­schei­det sich vom vor­he­ri­gen und vom noch kom­men­den, da gibt es nichts Abso­lu­tes.  Leben ist nicht vor­aus­seh­bar und nicht kon­trol­lier­bar. Wir sind auf­ge­for­dert, uns die­ser Unsi­cher­heit und Unbe­re­chen­bar­keit zu stel­len, mit jedem Atem­zug, dabei hel­fen uns kei­ne undurch­sich­ti­gen Welt­erklä­rungs­mo­del­le. Sooooo ein­fach und so schwer aus­zu­hal­ten. Des­halb dies­mal als Atem­übung der Woche, sich als Mensch atmend ins gro­ße Gan­ze stellen

P.S. Für den Fall, dass ihr mal ihre Bera­tung braucht, möch­te ich euch Giu­lia Sil­ber­ber­ger vor­stel­len, Grün­de­rin und Geschäfts­füh­re­rin der gemein­nüt­zi­gen Ber­li­ner Orga­ni­sa­ti­on “Der gol­de­ne Alu­hut”. Sie enga­giert sich für die Auf­klä­rungs­ar­beit zu Ver­schwö­rungs­theo­rien, Sek­ten, ideo­lo­gi­schem Miss­brauch, Hass­re­de und Rechts­extre­mis­mus. Sie gibt work­shops an Schu­len und Unis und ver­leiht jedes Jahr in Ber­lin den Preis “Der gol­de­ne Alu­hut”, einen sati­ri­schen Preis für die Ver­schwö­rungs­theo­rien und ‑theoretiker*innen des Jah­res. Da wird es die­ses Jahr wohl kei­nen Man­gel an Anwärter*Innen geben. Ein Inter­view mit ihr gab es am Di, 12. Mai im Tages­spie­gel: “Angst ist die zen­tra­le Triebfeder”.

P.S. Ute Fre­vert, His­to­ri­ke­rin, forscht zur “Geschich­te der Gefühle”und meint  “Die Sehn­sucht nach Sicher­heit ist wohl am stärks­ten aus­ge­prägt” in Grenz­si­tua­tio­nen und dif­fu­sen Bedro­hungs­la­gen. “ Wir kön­nen mit Unsi­cher­heit und Unge­wiss­heit schwer umge­hen, weil wir es sys­te­misch dar­auf anle­gen, alles und jedes unter Kon­trol­le zu brin­gen – auch uns sel­ber und unse­re Gefüh­le.” (Tages­spie­gel vom 26.05.2020)

P.S. Queen Elizabeth(94) ist iso­liert auf Schloss Wind­sor, in die­sem Jahr fal­len alle ihre Gar­ten­par­tys sowie ihre Geburts­tags­pa­ra­de aus.  eure immer noch opti­mis­ti­sche Atemlehrerin

Habt es gut bis zur nächs­ten Woche
Ger­trud 

Atemübung der Woche 9.pdf
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